Im Mythos suchten die frühen Kulturen sich das Dasein und die Welt zu erklären. Die Erzählungen von Göttern und von anderen übermenschlichen Wesen spiegeln die realen Erfahrungen der menschlichen Existenz. Sie suchten darüberhinaus eine Deutung des Unerklärbaren, wie etwa die Entstehung der Welt. So umgreifen diese Erzählungen das Kosmische wie das Menschliche. In Systeme gefaßt entwickeln sich daraus Religionen. Die gelebte Wirklichkeit, die Geschehnisse zwischen Völkern und Menschen, welche diesen Vorstellungen zugrunde liegen, nennen wir Geschichte.

Während die Betrachtung der Natur und der vom Menschen gemachten Umwelt in der bildenden Kunst relativ spät auftritt, bilden Mythos, Religion, Geschichte, und darin verwoben das Schicksal Einzelner, seit Jahrtausenden den Stoff, aus dem alle Künste schöpfen. Es sind vorwiegend Gestalten dieses Themenkreises, die mich beschäftigen.

All dies betrifft das Inhaltliche dieser Arbeiten und die Methode der Bildfindung, die ich seit Jahren verfolge und die einen Strom von Motiven nach sich zieht. Und dennoch ist die Bildthematik sekundär, sie mag noch so beziehungsreich, faszinierend oder gar bewegend sein.

Es ist der große Irrtum heutiger Kunstkritik, die Bildern, Objekten oder Aktionen den Rang von Kunstwerken zuweist, wenn ihre Inhalte aktuell, neuartig, sensationell, sozial oder politisch engagiert, gesellschaftskritisch oder auf irgend eine andere Weise interessant erscheinen. Es ist allein seine Form, seine Gestaltung und nicht sein Inhalt, welche ein Bild oder ein Objekt zum Kunstwerk macht. Gibt es für sich genommen einen uninteressanteren, trivialeren Inhalt als ein Paar alter, abgelaufener Stiefel? Van Gogh hat sie verwandelt, ihrem Abbild und ihrem Umfeld die bildnerische Form verliehen, die sie zum Kunstwerk macht. Die in der geschilderten Weise entstandenen farbigen Zeichnungen sind meist Kleinformate, etwa in Postkartengröße, ähnlich den „ungemalten Bildern“ des Emil Nolde. Es sind kleine, fertige Werke, die das Entwurfsstadium gleichsam übersprungen haben. Und es sind in der Tat „ungemalte Bilder“, denn ihrer großen Anzahl wegen werde ich sie niemals alle als große Gemälde ausführen können. Nur bei wenigen Ausnahmen war bisher die Übertragung ins Monumentale möglich. Um aber den unscheinbaren Miniaturen eine größere Wirkung zu verleihen, scanne ich sie, bearbeite sie am Computer und drucke sie in größeren Formaten aus. Von diesen Digitalgrafiken gibt es jeweils nur wenige Exemplare, die signiert und mit E. A. (Epreuve d’Artist) gekennzeichnet sind. Manche meiner Arbeiten mögen vielleicht nicht leicht zu entziffern sein. Der Titel soll einen Hinweis geben, was ich damit verbinde. Der Betrachter mag eine eigene Deutung finden oder für sich die Geschichte ergänzen, die in den Bildern erzählt wird.

Eine andere Werkgruppe der letzten Jahre sind mit Tuschfeder überzeichnete eigene Farbradierungen, wobei ich das darunter liegende Motiv in ein neues umwandele. Themenkreis und Technik entsprechen ganz den „ungemalten Bildern“. Von diesen eignen sich manche auch als Vorlagen für Skulpturen. Gewöhnlich fertige ich aber dafür Serien von Skizzen, die verschiedene Ansichten zeigen. Danach baue ich Modelle aus Holz oder Bronze für Großplastiken. Sie sind Vorstufen, aber zugleich, wie die „ungemalten Bilder“, in sich abgeschlossene, eigenständige Werke. Für große Skulpturen entstehen Zeichnungen und Schnitte im Maßstab 1:1, also in der originalen Größe der geplanten Arbeit. Edelstahl, Bronze und Holz sind die Materialien, mit denen ich arbeite. Kein anderes Material als der Edelstahl hat eine solche lichtintensive Wirkung, wenn seine Oberfläche geschliffen ist. Daher bevorzuge ich ihn. Edelstahl, Bronze und Holz bedingen die beiden Methoden der dreidimensionalen Bildnerei: die aufbauende, hinzufügende, wie sie Bronze und Stahl verlangen. Und die wegnehmende, wie sie Holz und Stein erfordern – die Methode, die im eigentlichen Sinne dem entspricht, was das deutsche Wort ausdrückt: Bildhauerei.

Da die Form eines Werkes, gleich welchen Inhalts, welcher Technik und welchen Materials nach meiner Auffassung der alleinige Maßstab sein kann für ein Werk mit künstlerischem Anspruch, fühle ich mich erst dann berechtigt, eine Arbeit als abgeschlossen zu betrachten, wenn nach wiederholter Prüfung nach meinem Urteil die gültige Form gefunden ist. Ob dies gerechtfertigt ist, mag jeder für sich entscheiden.

12.12.2013, Bernd Rosenheim

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