Erdgöttin

Woher stammen die bildhaften Vorstellungen von Mythen?​

Um die Frage zu beantworten, muss man sich doch zunächst die Frage stellen, wie solche Vorstellungen entstanden sind. 

Sie entstammen der Volksphantasie. Aus vermutlich zunächst diffusen Beschreibungen geheimnisvoller Erscheinungen – beruhend auf Erlebnissen oder Phantasien Einzelner – verdichten sich im Laufe der Überlieferung immer genauer definierte Gestalten, denen sichtbare Attribute und bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Im Volksglauben fest verankert, werden sie allmählich in ein religiöses System integriert. Wer von der wirklichen Existenz solcher Wesen überzeugt ist, hat keinen Anlass, sich ihr Aussehen anders vorzustellen, als es in der Überlieferung beschrieben wird.

Was mündlich tradiert und in den heiligen Texten mit Worten geschildert wird, hatte bis dahin Bestand allein in der Phantasie der Gläubigen. Erst die Kunst macht es sichtbar. Ihr Zeugnis belegt nun im Detail das Erscheinungsbild eines übermenschlichen Wesens. Nun kann jeder mit dem körperlichen Auge sehen, was zuvor seiner Vorstellung überlassen war. Die Überzeugungskraft des Bildhaften verfestigt den Glauben an die Wirklichkeit dieser Wesen und ihrer Erscheinungsform – also Nagas mit Kobrahauben, Engel mit Flügeln.

Kein Grieche der Antike hat jemals eine der Gottheiten des griechischen Pantheons leibhaftig erblickt. Wer aber würde nicht davon überzeugt sein, daß die Göttin Flügel trägt, wenn er einmal der anfassbaren Wirklichkeit der Nike von Samotrake gegenüber gestanden ist?

Da man übermenschlichen Wesen auch übermenschliche Fähigkeiten zuschrieb – Apsharas können fliegen, wie auch Engel oder Harpyien – so selbstverständlich auch die Fähigkeit, ihre Gestalt zu verwandeln. Wenn sogar der Buddha nicht nur die Existenz von Nagas als wirklich ansah, sondern auch ihre Fähigkeit der Verwandlung annahm, wie sollte der Verfasser religiöser Texte oder gar der einfache Gläubige nicht auch davon überzeugt sein? So kommt es auch, daß in der bildenden Kunst wie in den Texten diese Wesen auch in menschlicher Gestalt erscheinen, in der Regel aber in ihrer „wahren“ Gestalt, d. h. in der Gestalt, die ihrem Wesen entsprach.

Im Maitribala Jataka werden die Dämonen bei dem Hirten als schreckliche Erscheinungen dargestellt (Ajanta Höhle 1). Am Königshof treten sie als Brahmanen auf.

Und rang Jakob nicht mit dem Engel, ohne ihn zu erkennen? Wohl deshalb, weil der Engel ihm als Mann entgegentrat ohne sein Wesensmerkmal, den Flügeln. Aber vielleicht ist das eine spätere Vorstellung, die in der christlichen Kunst das Bild des Engels prägte und damit die Vorstellung der Menschen.

19.03.2018, Bernd Rosenheim


Edelstahl. 2017.
Auf Privatgrund, Irland.

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