Holz, Bronze. 235 cm.
Über viele Jahre ausgestellt im Rathaus Offenbach am Main. Zur Zeit nicht öffentlich zu sehen.
Oft wird mir die Frage gestellt, wie ich auf eine bestimmte künstlerische Idee komme. Für den Künstler ist es gewöhnlich nicht ganz leicht, die Entstehungsgeschichte eines Motivs nachzuvollziehen, da er normalerweise kaum über ein solches Problem nachdenkt. Stets ist es ein bestimmter Themenkreis, um den sich seine Gedanken drehen, ehe sie sich zu einer Vorstellung, zu einem Bild verdichten. Es ist ein allmählicher Vorgang. Den „genialen Einfall“, der unvermittelt und ohne Zusammenhang wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel einem Künstler plötzlich vor Augen steht, den gibt es nicht. Im Falle dieser Arbeit ging eine jahrelange Beschäftigung mit den Mythen verschiedener Kulturen voraus, mit vergleichenden Religionsstudien und einer Reihe archäologischer Themen. Aus dieser kaum überschaubaren Stoff – Fülle erwuchsen Gestalten, die Mythen entstammen, welche in der abendländischen Kultur geläufig sind, so etwa die Medusa oder der Minotaurus. Andere Figuren und Gottheiten sind erfunden und nahmen Gestalt an als Malerei oder Skulptur. Es können Erfindungen sein, die der Welt des Science Fiction angehören, wie die Stele des Astronauten oder der Dino 2000. Auch finden sich Erscheinungen, die anderen Kulturen entnommen sind, der aztekische Windgott „Ehecatl“ etwa. In diese Reihe gehören Großplastiken wie die „Barbarische Göttin“, der Schatten des Samurai, die Wespenkönigin und eben auch diese Skulptur.
Man versetze sich in die Lage des Archäologen Howard Carter in dem Moment, als er im Jahre 1922 den ersten Blick in die Grabkammer des Tutenchamun werfen konnte – ein unbeschreiblicher Augenblick. Einen solchen Augenblick durfte auch ich erleben, als ich 1980 während einer Filmexpedition das älteste aus dem Felsen gemeißelte Höhlenheiligtum Indiens entdeckte. Und einen ebensolchen atemberaubenden Moment würden die Archäologen einer fiktiven Expedition erlebt haben, wenn sie in einer entlegenen Weltgegend – in Tasmanien etwa oder auf einer unerforschten Insel, die manche für das sagenhafte Atlantis halten mögen – auf eine völlig unbekannte Kultur gestoßen wären.
In einer zerfallenen, vom Dschungel überwucherten Tempelanlage, in einer Felsengrotte oder dem verschütteten Stollen eines längst aufgegebenen Bergwerks standen sie plötzlich, vom Lichtkegel ihrer Suchlampen jäh aus der Dunkelheit ausgeschnitten, vor einer rätselhaften Figur. Sie hatten den Zugang zu einer Kammer, einer Art Kapelle entdeckt, die jahrhundertelang luftdicht abgeschlossen war und in die auch keine Nässe eindringen konnte, da der dichte Pflanzenwuchs ringsum alles Wasser aufsog. Dies erklärte den guten Erhaltungszustand des Materials der Figur: Holz, Bronze und Leder. Die Gestalt einer Frau wuchs von den Oberschenkeln ab aus einem Schiffsbug. Der Rumpf des Schiffes war abgebrochen, ebenso Teile der ausgebreiteten Arme der Figur. Sie trug einen Küraß, einen von farbigem Leder umwundenen Brustharnisch, der allerdings den Busen frei ließ. Der Kopf war erhoben, aber nur der untere Teil des Gesichts war sichtbar. Ein Bronzehelm bedeckte Kopf, Stirn und Augen, sodaß der Eindruck entstand, als sei sie blind. Der in einem Vogelschnabel auslaufende Helm besaß Augenschlitze, unter denen jedoch die Augen mit einer Binde verschlossen waren. Der Mund war leicht geöffnet, so als spreche sie eine Silbe aus, vielleicht ähnlich der heiligen Silbe „Om“.
Der geöffnete Mund, die Haltung des Kopfes, die ausgebreiteten Arme – all dies erschien wie eine Gebetshaltung. War sie die Priesterin eines unbekannten Kultes? Ihre üppigen Formen deuteten auf eine Fruchtbarkeitsgottheit. Da jedoch keinerlei weiteren Hinweise auf den kulturellen oder religiösen Hintergrund der Figur zu finden waren, nannten die Archäologen sie die „Unbekannte Göttin“.