Ein Haus für Leonardo

Edelstahl mit Bronzefigur, H:153cm/B:60cm/T:41,5cm. 1988.

Diese Skulptur ist der Versuch, den „homo vitruvianus“ ins Dreidimensionale zu wenden. Bei Vitruv (ca. 25 v. Chr.) dient der Mann in Kreis und Quadrat nicht nur als Veranschaulichung der kommensurablen Proportionen des menschlichen Körpers, sondern auch des antiken Zahlen- und Münzsystems. Ferner hat er eine kosmologische Konnotation als Hinweis auf die Mikrokosmos-Lehre. Leonardo versuchte um 1490, die Beschreibung bei Vitruv exakt zeichnerisch umzusetzen, was ihm wie keinem zweiten gelungen ist. Allerdings stand er vor dem Problem, dass in der Frontalansicht der menschliche Fuß nur verkürzt zu sehen ist, obwohl er doch in Virtuos Proportionskanon eine so wichtige Rolle spielt. Daher wendete Leonardo den linken Fuß´des Modells zur Seite, um seine Länge zeigen zu können. Das lässt seinen „homo vitruvianus“ noch stärker als Lehrbild erscheinen, wogegen der griechische Bildhauer Polyklet (ca. 440 v. Chr.) seinen Kanon in einer zwanglos erscheinenden Statue wie dem berühmten „Doryphoros“ demonstriert.

Rosenheim geht nun wiederum einen Schritt über Leonardo hinaus, indem er versucht, den „homo vitruvianus“ dreidimensional zu interpretieren. Damit stellt er sich einer besonderen Herausforderung, denn nun muss jede Schulter zwei Arme und jede Hüfte zwei Beine aufnehmen, und dies gilt es in überzeugender Weise organisch zu gestalten (die vielarmigen und -beinigen Götterbilder Asiens abstrahieren diese Verbindungen). Daher dürfte die unheimliche Wirkung der Figur rühren – sie ist aus dem Alltag geläufig, findet man doch Leonardos Illustration auf jeder Krankenversicherungskarte, aber in der dreidimensionalen Ausformung wirkt sie doch ganz anders. Letztlich ist sie ein Monstrum […]. Vielleicht ist darin auch der Grund zu suchen, dass Leonardo nicht etwa versuchte, den „homo vitruvianus“ als Skulptur zu formulieren. Rosenheim zeigt damit auf, dass die Plastik vor Augen führen muss, was die Zeichnung kaschieren kann. Das drückt auch der Titel „Ein Haus für Leonardo“ aus: Ein Bauwerk als dreidimensionales Gebilde legt jeden Fehler der zweidimensionalen Entwurfszeichnung zwangsläufig offen.
(aus Katalog Maske des Mythos)

A Gateway for Leonardo (1988-2018)